Das Thema „alleingeborener“ oder „verlorener Zwilling“ ist sowohl in der Medizin als auch in der Psychotherapie bekannt. Medizinisch bedeutet es, dass eine Mehrlingsschwangerschaft bestanden hat, sich aber bereits in der Frühschwangerschaft nur ein Baby weiterentwickelt hat und geboren wurde.

In solchen Fällen waren meist zwei oder mehr Embryonen angelegt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den verstorbenen Fötus zu identifizieren. Die Hebamme kann es manchmal an der Form (Verdickung) der Plazenta nach der Geburt erkennen, bzw. es wird ein mumifizierter Fötus gefunden. Oft geht der verstorbene Zwilling mit einer Blutung in der frühen Schwangerschaft ab. Das Gewebe kann sich jedoch auch zurückbilden bzw. auflösen und in der Plazenta oder im überlebenden Zwilling einwachsen (Teratom, Gewebe wie Haar, Zähne oder Knochen).

In der Wissenschaft ist bekannt, dass etwa 10 – 20 % aller Schwangerschaften Mehrlingsschwangerschaften sind. Aufgrund der Zunahme an künstlichen Befruchtungen ist die Zahl der ausgetragenen Zwillinge gestiegen. Bis dahin war jede 100. Geburt eine Zwillingsgeburt, d.h. 90% der Mehrlinge gehen verloren. Durch die Erfahrungen der pränatalen Therapien, Hypnose und Familienstellen geht man davon aus, dass sogar 30-35 % der Schwangerschaften Mehrlingsschwangerschaften sind.

Embryonen, die sich nicht gesund entwickeln, sterben im Laufe des ersten Drittels der Schwangerschaft ab. Dieses Phänomen ist Hebammen und Geburtshelfern schon seit Beginn der Geburtshilfe durchaus bekannt und kann durch sogenannte Mondknoten in der Plazenta sichtbar werden. Dabei handelt es sich um in den Mutterkuchen eingewachsene, nicht lebensfähige Embryonen. Den Müttern wurde und wird nichts gesagt, um sie nicht zu beunruhigen. Man war auch der Meinung, dass es für niemanden wichtig ist, dass dort ein Embryo den Beginn seiner Reise ins Leben frühzeitig beendet hatte. Für die werdende Mutter bleibt dieses Ereignis, dass sie eins der Embryonen nicht lebend am Ende der Schwangerschaft in die Arme schließen kann, in der Regel unbemerkt.


Für den überlebenden bzw. alleingebliebenen Zwilling hat dies tiefgreifende Prägungen zu Folge. Aus der Zwillingsforschung weiß man, dass Zwillinge die engste Bindung zu einander haben, noch vor der Mutter-Kind-Beziehung, den Geschwistern und Liebespartnern.
Die erste Erfahrung des lebenden Zwillings ist der Verlust des Menschen, der ihm am Nächsten ist und mit dem er/sie eine tiefe Liebe verbindet, die als Einheit erlebt wurde.


Der Verlust wird wie ein eigenes Sterben wollen erlebt. Für den überlebenden Zwilling besteht keine Möglichkeit die Gefühle des Schmerzes, der Trauer und der Wut zu leben und auszudrücken. Sie kapseln sich ein und erstarren. Da die Mutter in der Regel von der Not ihres Kindes nichts weiß, fühlt das Baby sich auch von ihr alleingelassen und entwickelt keine innige Beziehung zu ihr. Dies sind die ersten entscheidenden Bindungsstörungen, die großen Einfluss auf das spätere Leben des Menschen haben.

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Betroffene vertreten systemisch den verstorbenen Zwilling und sind selbst halb im Leben und halb im Tod (nicht da). Gefühle von Alleinsein, Einsamkeit, große Verlustängste (für Außenstehende oft nicht nachvollziehbar), unglückliche Beziehungen und Trennungen sind die Folge.


Von Betroffenen wird u.a. so beschrieben: „Ich fühle mich, wie in einer Blase und die Welt ist außerhalb, das Leben findet außerhalb der Blase statt.“
Undefinierbare Schuldgefühle (am Tod des Zwillings), übergroße Verantwortungsgefühle, Mißtrauen/mangelndes Vertrauen treten häufig auf.

Sie arbeiten für zwei (oder drei oder vier) und wählen oft helfende Berufe.
Ein alleingebliebener Zwilling lebt Beziehung anders als ein „Einling“.
Es kann sein, dass er/sie symbiotische Begegnungen sucht, in denen er verschmelzen kann oder es tritt das andere Extrem auf, in Form großer Angst vor Nähe und Beziehung und so dass diese vermieden wird.


Allein gebliebene Zwillinge empfinden oft ihr ganzes Leben als eine Suche nach Einheit und Ganzheit, etwas fehlt und wird vermisst. Der verlorene Zwilling wird in Geschwistern, Partnern und Kindern gesucht (projiziert).
Die Erkenntnis und die Erinnerung an den verlorenen Zwilling bedeutet eine große Erleichterung, wie eine Lücke, die sich schließt, die unbewusste Suche kann aufhören.

Systemische Aufstellungen an dieser Stelle wirken extrem heilsam auf das Beziehungsverhalten, so dass neue glücklichere Beziehungen eingegangen werden können.